Eine Fabrik, dem See abgerungen

Aus den Anfängen der Chemischen Fabrik Uetikon

Bild: Schweizerisches Wirtschaftsarchiv

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Bild: ETH Bildarchiv.

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Der Ausbau musste schnell gehen. Das legt zumindest ein Inserat nahe, das die Gebrüder Schnorf am 29. Dezember 1860 im «Wochenblatt des Bezirks Meilen» schalteten. In der Vorgängerpublikation der «Zürichsee-Zeitung» suchten die Patrons der Chemischen Fabrik Uetikon innert zwei Wochen Baufirmen für «Erd-, Maurer-, Zimmermanns- und Steinbauer-Arbeit». Denn die Schnorfs beabsichtigten Grosses: Es bestand zwar nicht der erste, aber der bisher bedeutendste Ausbau ihres Unternehmens bevor.

Sie seien Willens, schrieben sie in der Bauausschreibung, «eine Landanlage mit Umfassungsmauern und auf derselben ein grosses Fabrikgebäude zu erbauen.»Landanlage – das heisst nichts anders, als dass dem Zürichsee mit dem Einverständnis des Kantons Land abgerungen werden sollte. Denn das Unternehmen, 1818 von Heinrich, Kaspar, Rudolf und Elisabeth Schnorf als kleiner Gewerbebetrieb gegründet, konnte nur in eine Richtung wachsen: in den See hinaus. 1837, das zeigen alte Karten, befand sich die Uferlinie noch auf jener Höhe, auf der später die Seestrasse gebaut wurde. Die junge Chemiefabrik, die zu dieser Zeit gut zehn Arbeiter beschäftigte, bestand nur aus kleineren Gebäuden, die bergseitig der heutigen Kantonsstrasse lagen.

Ausbau in drei Etappen

Die Bauauschreibung, die im «Wochenblatt des Bezirks Meilen» publiziert wurde, war gewissermassen der Auftakt der Expansion. Zuerst wurde Land aufgeschüttet, und ab 1862 bis 1865 entstanden die Erweiterungsgebäude beim heutigen Hafen, darunter das markante Kammerofengebäude mit dem Parallelgiebel.

Zwischen 1893 und 1896 sowie von 1913 bis 1918 folgten die beiden nächsten Ausbauetappen. In dieser Zeit entstanden die grossen Lagerhallen im Westen des Areals, beispielsweise der geschützte Düngerbau von 1896. Für diese Bauten musste dem See erneut Land abgetrotzt werden. Vor genau 100 Jahren war das Gelände praktisch im heutigen Umfang aufgeschüttet und das neu gewonnene Terrain fast vollständig überbaut. Ein Wandgemälde um 1920 des Zürcher Landschaftsmalers Wilhelm Ludwig Lehmann im Treppenhaus der ETH ist nahezu identisch mit der Silhouette der heutigen Fabrik. Die Fabrik hat somit ihr Gesicht, wie wir es kennen, grösstenteils in den ersten hundert Jahren erhalten.

Wachstum dank Dünger

Dass sich die Chemiefabrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts plötzlich rasant entwickelte, nachdem sie in der ersten Jahren nur langsam gewachsen war, lag zu einem grossen Teil an der Einführung der Düngermittelproduktion im Jahr 1881. Zuvor hatte sich die Fabrik auf die Herstellung von Schwefelsäure für die Textilindustrie konzentriert. Die Nachfrage nach Dünger für die Landwirtschaft war gross, und der Verkauf des Stoffs ein lukratives Geschäft. Davon zeugen zahlreiche Inserate, die Ende des 19. Jahrhunderts im «Wochenblatt des Bezirks Meilen» und in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen.

Besonders stark stieg der Bedarf an chemischen Produkten während der Weltkriege, als die Schweiz wirtschaftlich vom Ausland abgeschnitten war. Die «Chemische», wie die Fabrik in Uetikon teils noch heute genannt wird, war massgeblich daran beteiligt, die Nachfrage der heimischen Industrie an Chemikalien zu decken. «Die Fabrik leistete damit einen beachtlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Landesverteidigung», heisst es in der Uetiker Dorfchronik von 1983. Die Chemie Uetikon war damit zu einem wichtigen Glied in der Schweizer Kriegswirtschaft geworden – und somit zu einer Profiteurin der Krisenzeit.

Fabrik überdauerte die Zeit

Auch nach dem Krieg expandierte das Unternehmen – allerdings nicht in Uetikon. Hier konnte sich die Fabrik nicht mehr ausdehnen, weshalb sie 1948 mit einem Teil der Produktion im Aargau begann. Das dürfte einer der Gründe sein, dass die architektonische Veränderung – zumindest die von aussen sichtbare – praktisch aufhörte.

Die Bauten aus den ersten hundert Jahren überdauerten so die Zeit. Sie sind zu einem Wahrzeichen von Uetikon geworden. Der Bundesrat nahm das Fabrikareal 2012 sogar im Inventar der schützenswerten Ortsbilder von nationaler Bedeutung (Isos) auf. Und der Heimatschutz bezeichnete unlängst einige Gebäude feierlich als «Kathedralen der Industriegeschichte».

«Die Fabrik leistete einen beachtlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Landesverteidigung».

Dorfchronik von Uetikon

Segen oder Fluch? Von sozialen Einrichtungen und prekären Arbeitsbedingungen

Bild: ETH Bildarchiv.

Bild: ETH Bildarchiv.

Als ein Arbeiter in die siedende Flüssigkeit fiel

Der Uetiker Andreas Leuthold starb am 10. Februar 1870 auf grauenvolle Weise. «Gestern Morgen», schrieb die NZZ tags darauf in einer Randspalte, «fiel ein Arbeiter in der chemischen Fabrik der Herren Schnorf in Uetikon beim Leeren einer Tanse in die siedende Flüssigkeit eines grossen Kessels und starb plötzlich.» Der Verunglückte Leuthold hinterlasse «eine Wittwe mit vier unerzogenen Kindern». Tödliche Unglücke und schwere Verletzungen waren insbesondere in den Anfangen der Chemiefabrik in Uetikon keine Seltenheit. Die Arbeitsbedingungen waren prekär, für damalige Verhältnisse aber nicht untypisch.

Die Angestellten schufteten unter grosser körperlicher Anstrengungen und in der Nähe zu Öfen, die mehrere Hundert Grad heiss waren. Das gab Durst, und viele Arbeiter neigten dazu, diesen mit Alkohol zu löschen. Alkoholismus dürfte in diesen Jahren verbreitet gewesen sein, worauf eine ungewöhnliche Handlung einer der Fabrikherren deutet: In den 1920-Jahren kaufte nämlich einer der Patrons die Wirtschaft «Zur alten Post» auf, um sie kurz darauf wieder abzustossen – mit der Auflage, dass darin kein Gasthof mehr betrieben werden dürfe.

Auch die langen Arbeitstage setzten den Angestellten gesundheitlich zu. In den Anfängen war die Zahl der Arbeitsstunden nicht reglementiert. Ab 1868 waren 66 Stunden pro Woche üblich, nach 1893 waren es noch 56 Stunden – und dies im Schichtbetrieb.

Mit blosser Hand in der Säure

Arbeitsschutz hatte einen anderen Stellenwert als heute. Medienberichten zufolge sollen Arbeiter teils bis in die 1980er-Jahre hinein mit blossen Händen in Säuren gegriffen haben, sodass sich ihre Fingernägel lösten. Die Altlasten, die noch heute im Boden des Fabrikgeländes schlummern, verdeutlichen zudem, dass Umweltschutz noch kein grosses Thema war.

Das Bewusstsein dafür, dass die Chemikalien Mensch und Umwelt schaden können, kam in der Schweiz erst 1986 nach dem Brand und Chemieunglück in Schweizerhalle richtig aufs Tapet. Dann verschärfte auch die Chemie Uetikon die Schutzbestimmungen.

Daraus zu schliessen, den Fabrikherren seien ihre Angestellten gleichgültig gewesen, wäre aber unzutreffend. Denn in vieler Hinsicht war die Fabrik fortschrittlich. Die Chefetage war sich der Bedeutung des Unternehmens für das Fabrikdorf Uetikon – immerhin arbeiteten hier zu den besten Zeiten rund 350 Personen – bewusst. Die Fabrik engagierte sich mit Schenkungen, Stiftungen und Fonds, die den Einwohnern zugute kamen. Zudem rief sie Institutionen ins Leben, von denen die Fabrikarbeiter und übrigen Angestellten im noch schwach ausgebauten Sozialstaat profitierten. Ein Beispiel dafür ist die Betriebskrankenkasse, die 1864 zeitgleich mit der Fabriksparkasse gegründet wurde. Die Firma tätigte regelmässig Einlagen, die bei der Pensionierung der Angestellten zur Verfügung standen. Hinzu kamen 1901 eine Altersversicherung, 1902 eine kollektive Lebensversicherung und vieles mehr.

Geld für Wohlfahrt und Schule

Das Dorf profitierte von ähnlichen Errungenschaften, etwa von der für Uetikon gegründeten Sparkasse. Auch liess die Besitzerfamilie Schnorf auf eigene Kosten den ersten Dampfschiffsteg errichten, und sie stiftete 1893 einen namhaften Betrag an den Bau des Altersheims Wäckerling. Ebenso richteten die Schnorfs einen Fonds für eine alkoholfreie Gemeindestube mit Bibliothek und Lesezimmer ein und sie liessen ein Wohlfahrtshaus bauen. Überdies gründeten sie den ersten Kindergarten und bezahlten den Handarbeitsunterricht in der Schule.

Nicht nur mit der Schule, sondern auch mit der Politik war die Familie verbandelt. So bezahlten die Schnorfs das 1934 erbaute Gemeindehaus, das bis 2015 von der Uetiker Verwaltung genutzt wurde. Zudem bekleidete die Familie zahlreiche politische Ämter im Dorf. Aus gutem Grund hat Uetikon deshalb den Beinamen «Schnorfikon» erhalten.

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